U-Bahnstation Schlesisches Tor


Ausschnitt
(...) Da standen sie nun auf einem breiten Gehweg. Der Tag, ein Junimorgen, brach gerade in seiner ganzen Fülle an. Die Linden blühten und der süße Duft ihrer Blüten erfüllte die Luft. Scharen von Spatzen tschilpten auf ihren Ästen.
Magdalena dachte daran, wie sie jetzt eigentlich mit ihrem Roller den Gehsteig auf dem Gehsteig fahren wollte. An schönen Sommermorgen spielte sie immer auf der Straße. Aber jetzt war sie nicht in Leipzig, sondern in Berlin. Allein mit der Mutter. Und mit ihrer Angst, die sie wie der Mor-gennebel umschloss. Hier war alles so viel größer. Die Straßen breiter, die Häuser höher. Sie bib-berte am ganzen Körper und ihr Herz pochte, als sie den Fußweg entlang gingen. Die Mutter hielt sie fest an der Hand. Es war ein harter Griff, der weh tat. In der anderen Hand hatte sie Flori und unter dem Arm das Bilderbuch. Sie versank in ihre Gedanken. Sie dachte an die kleine gelbe Stra-ßenbahn, wie einsam sie sich fühlte, wenn sie immer durch die Stadt fuhr.
Ein lautes Hupen brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie hatten gerade eine Straße überquert. Die Mutter muss wohl nicht nach rechts und links gesehen haben. Ein Auto aus dem brausenden Verkehr um sie herum hätte sie fast überfahren.
„Dann wäre wenigstens alles vorbei", hörte sie ihre Mutter murmeln. Der Griff ihrer Hand, die jetzt schweißnass war, umklammerte sie fest. Aua! Magdalena hätte sich am liebsten wie die klei-ne gelbe Straßenbahn in den Himmel erhoben, aber sie musste sehr aufpassen nicht weggerissen zu werden. So viele Leute waren mit einem Male um sie herum, die alle hastig einem Ziel entgegen zu eilen schienen. Die Menschenmenge nahm sie wie ein Sog mit, spülte sie in einen Schacht hin-ein. Sie sah nur einen Namen auf einer elfenbeinfarbenen Tafel, eingelassen in ein verziertes Ei-sengitter. Sie konnte nicht lesen, was auf dem Schild stand, dafür ging es viel zu schnell. Aber wo-hin liefen sie überhaupt? Kannte denn die Mutter den Weg?
Sie hatte nicht einmal mit ihr geschimpft. Das war ein schlechtes Zeichen.
„Mutti, was machen wir? Wohin gehen wir?"
Sie sah, wie ihre Lippen zitterten, als sie antwortete: „Wir fahren mit der U-Bahn. Du musst jetzt ganz lieb sein. Schau mal, du bist doch noch nie U-Bahn gefahren."
Etwas Flehendes lag in ihrer Stimme. Magdalena hatte das Gefühl jetzt ganz stark sein zu müs-sen. Konzentriert führte sie die Mutter die Treppen hinunter. Hinein in einen Abgrund, aus dessen Tiefen sie vielleicht nie wieder emporsteigen würden. Sie landeten auf einem Bahnsteig, wo viele Menschen warteten. „Warschauer Straße" entzifferte sie von den schmutzig-gelben Fliesen. Ge-rade plärrte der Lautsprecher etwas. Durch die Fliesen hallten alle Geräusche und man konnte nichts verstehen.
Die Luft war stickig und abgestanden. Ein staubiger Geruch nahm ihr fast den Atem. Etwas würg-te sie. Ihr wurde übel. Sie spürte immer noch den harten Griff der Hand ihrer Mutter, die sie über den Bahnsteig zog. Magdalena sah, dass sie bleich war. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Ob sie wohl gleich schreien würde? Oder tot umfallen? Ob sie von allen beobachtet würden?
Die vielen Leute um sie herum bildeten eine feindselige Wand. Fremde Gesichter. Magdalena dachte an die Frau aus dem Süßwaren-Laden, die ihr manchmal Bonbons schenkte. Sie wollte nach Leipzig. Nicht hier stehen, eingepfercht sein zwischen Menschenleibern. Von Feinden umgeben, die sie bald vernichten würden.
Doch niemand nahm von ihnen Notiz. Eine nicht sehr große, etwas mollige junge Frau mit einem kleinen Mädchen an der Hand am Morgen in der U-Bahnstation. Eine Handtasche, eine Puppe, ein Bilderbuch. Kein größeres Gepäckstück. Nicht einmal einen Mantel. Der Lautsprecher plärrte et-was, was Magdalena nicht verstand.
„Gehen wir noch ein wenig nach vorn." Die Mutter schob sie durch die Menge vorwärts. Sie sah auf den Boden. Er war schmutzig. Zeitungspapier lag zerfetzt herum und unzählige Zigarettenkip-pen. An der Bahnsteigkante war eine Reihe andersfarbiger Kacheln eingelassen, als Markierung, damit die Fahrgäste nicht über diese Grenze schritten, wenn der Zug einfuhr. Durch ihren elfen-beinfarbenen Schimmer stachen sie hervor und Magdalena versuchte zu zählen, wie viele Fliesen dort eingelassen waren. Sie kam aber nicht sehr weit. Schon bei der Zahl neun blickte sie auf, da ihre Mutter gerade wieder zusammenzuckte.
Sie sah zwei Männer in grauer Uniform mit Mützen auf dem Kopf, die Gewehre geschultert. Sie bildeten eine Insel in dem Menschenozean, jeder hielt Abstand zu den beiden. Jetzt begann die Hand der Mutter so heftig zu zittern, dass der ganze Arm, nein, die ganze Person schlotterte.
„Mutti, ruhig", sagte Magdalena leise, aber bestimmt und zog die bebende Frau an den Männern vorbei.
„Warum haben sie so einen roten Stern auf der Mütze?"
„Bitte Magdalena..." die vollen Lippen der Mutter verfärbten sich blau.
„Komm Mutti", die abgeliebte Puppe und die kleine gelbe Straßenbahn noch fester an sich ge-presst, schob sie die Mutter an den Beiden vorbei. Die Volkspolizisten beachteten sie gar nicht. Der Jüngere nahm gerade ei¬ne Zigarette aus seiner Uniformhose, der ältere gab ihm Feuer. Da hatte das Menschenmeer die junge Frau und das kleine Mädchen schon weiter¬gespült.
Durch den Lautsprecher hallte eine Durchsage. Es gab einen Ruck in der Menge. Ein Zug fuhr ein. Magdalena beobachtete, wie er näherkam. Die kleine gelbe Straßenbahn ist doch auch ein Zug, aber so ganz anders als diese U-Bahn hier. Auch wenn ihre Augen ebenfalls glänzten, so ging doch ein kalter, unbarmherziger Blick von ihr aus. Beim Halten gab sie ein hässlich zischendes Geräusch von sich. Dieser Laut erinnerte Magdalena an die riesige Schlange im Leipziger Zoo. Wenn sie ihre Zunge ausstreckte, um sich ihre Opfer einzuverleiben. Ob sie wohl das nächste Opfer sein wür-den? Sie kniff die Augen zu. Trotz des vielen Lärms um sich herum, spürte sie nur Totenstille in sich. Es war, als ob sich alles Äußere von ihr ablöste. Sie nur noch eine Beobachterin der Dinge sei. Ja, als ob sie gar nicht real da wäre. Gerade wurden sie in den Rachen der Schlange geworfen. Schnell schloss sich ihr Maul hinter ihnen. Sie waren gefangen. Aber sie lebten noch. Das Ungeheuer hatte sie noch nicht gefressen. Tack-Tack machte es.
Es waren doch die Räder, deren Metall an die Schienen schlug. Magdalena öffnete die Augen. Um sie herum, dicht an dicht, standen lauter Bäuche. Sie fühlte sich von ihnen eingekesselt. Er-drückt. Sie konnte kaum mehr atmen. Außerdem rüttelte es grauenhaft. Sie schwankten hin und her.
„Hilfe, Mutti! Mir wird schlecht!"
„Bleib ruhig stehen! Wir sind gleich da!"
Magdalenas Magen hob und senkte sich. Es würgte sie. Wenn die Luft doch wenigstens nicht so stickig wäre. Ich will hier raus! Schrie sie. Aber nur leise in sich hinein. Niemand durfte sie hören. Niemand merken, wie es ihr ging. Sie musste brav sein.
Die Schlange zischte wieder. Es ruckte heftig. Wie ein zu Tode erschrockener Schmetterling flat-terte die Hand der Mutter in die Luft. Sie fiel aber sofort wieder in die Kinderhand zurück. Was würde passieren, wenn sie hier auf der Stelle sterben würden? War ihre Mutter schon tot? Nein, sie stand nur wie gelähmt auf der Stelle. Der Rachen der Schlange hatte sich geöffnet. Das war doch die Gelegenheit zu fliehen.
Magdalena sah ihre Mutter fragend an. Diese nickte. Das Kind zog die halb erstarrte Frau aus der U-Bahn. Wieder ein schwarzer Bahnsteig mit einer elfenbeinernen Kante. Aber ein anderer. „Schlesisches Tor" stand an den schmutzig-gelben Fliesen. Das las Magdalena gerade noch, denn das Menschenmeer riss sie erneut mit sich fort. Noch einmal Treppen hinauf.
Jetzt zog sie die Mutter. Nicht stehen bleiben. Sonst kommt vielleicht doch noch die zischende Schlange und frisst sie. Oder die zwei Männer mit dem roten Stern auf den Mützen und erschie-ßen sie.
„Magdalena, wir sind im Westen!" Das sollte jubelnd klingen. Doch ihre Stimme klang wie abge-schnitten.
„Mutti, ich habe Bauchweh! Mir ist so schlecht! Ich muss gleich brechen."
„Stell dich nicht so an! Ich kauf dir eine Westlimonade und dann geht es dir wieder gut!"
„Ich will keine Westlimonade!" Bei dem Gedanken an das süße Brausezeug hob sich ihr Magen.
„Sei nicht so undankbar!" Die Mutter schlug sie heftig in den Rücken. Das war ein Zeichen, dass die Gefahr und ihre Angst gebannt waren.
Magdalena verließen mit einem Male alle Kräfte. Sie konnte nicht mehr. Sie blieb einfach stehen, stützte ihre Hand an die Wand des U-Bahnhofes, aus dessen Schacht sie gerade empor gespült worden waren und erbrach sich.
Die kleine gelbe Straßenbahn der Linie Nr. 9 fuhr abends aus der Stadt heraus.
Sie rüttelte und schüttelte sich, doch ging sie ihren Weg.
Sie fuhr bis in den Himmel hinein und ward nicht mehr gesehen.]

Sabine Rosenberg

Kurzgeschichte: Schöne, böse Kindheit
(in: das Kindheitheitsbuchprojekt vom Münchner Literaturbüro)