Antigone - frei nach Sophokles

Bild "Lesung :Lesung_in_ev._Kirche.jpg"„Ungeheuer ist viel und nichts ungeheurer als der Mensch.“ -
Antigone, 332 / Chor (Zitat)

Es machte mir etwas Mühe nach Hause zu gehen. Ich musste auf meine Schritte achten, denn steil und steinig waren die Straßen Thebens. Ich konnte mich nicht allzu sehr in meinem Gedankenkarussell verlieren, musste Ordnung in meine aufgepeitschten Gefühle bringen.  
Es war Frühling. Auf den sieben Hügeln der Stadt blühten die Mandelbäume, gelb leuchtete die Forsythie in den Gärten. Mein Auge reichte über die Landschaft Böotiens, die sich in ein Blumenmeer verwandelt. In der Ferne sah ich die Ägäis. Das Erwachen der Natur stand in Kontrast zu meinen Gefühlen. Verzweifelt flehte ich die Göttin Athene um Hilfe an, damit sie Kreon zu Menschlichkeit und Klugheit führe. Aber danach sah es nicht aus. Ich fühlte mich zwischen Himmel und Erde zerrissen. Alles Beten hatte nichts bewirkt. Nichts schien das Schicksal aufhalten zu können. Obwohl die Sonne brannte, fröstelte es mich leicht. Ich wickelte meine weiße Tunika fest um meinen Körper, setzte energisch meine Schritte Richtung Stadt. Jedenfalls äußerlich wollte ich einen entschlossenen Eindruck erwecken, da ich innerlich keinen Rat mehr wusste.
Plötzlich sah ich drei Gestalten von der anderen Seite des Tempels auf mich zukommen. Zuerst konnte ich sie im gleißenden Sonnenlicht nicht erkennen. Ich sah lediglich ihre Silhouetten. Ihre weißen Tuniken wehten im Wind. Doch als ich genauer hinsah, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich erkannte die drei Ratsmitglieder, mit denen ich vor wenigen Stunden im Bürgerrat diskutiert hatte. Gemeinsam mit Kreon, dem sturen und uneinsichtigen König Thebens. Viel zu zurückhaltend waren die drei da in ihren Meinungsäußerungen gewesen! Deshalb hatte die Sitzung keinen guten Verlauf genommen. Kreon hatte sich wieder einmal durchgesetzt. Das bedeutete, es würde Krieg geben.
Nun hatten die drei mich erreicht, sie winkten mit den Armen und lachten. Ich lächelte zum Gruß, zum Lachen war mir nicht zumute.       Foto: Dr.  Reinhold Schneider
„Geht ihr auch in die Stadt?“ Sie bejahten.
„Dann können wir den Weg zusammen gehen. Ich würde mit euch gern noch einmal über die Ratssitzung sprechen. Wart ihr mit dem Ergebnis zufrieden?“
Ein heftiges Kopfschütteln kam als Antwort. Alle drei überschlugen sich in Kritik an Kreon. Ihre Worte erstaunten mich, weil sie so klar, ja so messerscharf die Fehler des Herrschers erkannten.
Warum nur, frage ich mich jetzt, hatten diese so überaus klugen Menschen bloß im Rat geschwiegen? Warum nur hatten sie auf der Versammlung nicht so klar ihre Meinung gesagt wie jetzt?
Dann wäre das Unheil, das nun folgt vielleicht abzuwenden gewesen.
Ich hütete mich aber, dies vor den drei Ratsmitgliedern laut zu äußern. Ich wollte sie mir nicht auch noch zu Gegnern machen.
Ich dachte wieder an die Sitzung und daran, dass ich mit meinen Worten Kreon zu meinem Feind gemacht hatte. Empört über seine halsstarrige Haltung schrie ich ihn an, wie viele Menschen er noch umzubringen gedenke. Ob es denn nicht reichen würde, dass Antigone und ihre Brüder Eteokles und Polyneikes tot seien? Ja, dass sogar Haimon, der Verlobte Antigone sein Leben verloren hätte, ebenso seine eigene Frau Eurydike? Fast alle seiner Lieben seien durch Selbstmord aus dem Leben geschieden! Reicht es nicht, dass er durch seine Herrschsucht, mit seiner Rechthaberei fast seine ganze Familie ausgelöscht hatte? Er solle es jetzt doch genug sein lassen und mal darüber nachdenken, was er getan habe. Und nicht schon wieder einen neuen Rachefeldzug anzetteln, indem er gegen die Athener in den Krieg ziehe und wieder unschuldige Menschen sterben ließe. Ob er denn nicht sehe, wie Hass und Rache aufs Neue Unglück erzeugen? Dann flehte ich ihn an, weiteres Blutvergießen zu verhindern.
Kreon sah mich nach diesen Worten entgeistert an. Widerstand war er nicht gewöhnt. Alle anderen Männer in der Ratsversammlung schwiegen, keiner sprang mir zur Seite. Keiner hatte den Mut seine Meinung zu sagen.
„Du bist entlassen“, entfuhr es ihm dann. “Fortan bist du kein Ratsmitglied mehr. Verschwinde!“
Ich war erschrocken. Weniger über den Hinauswurf als über meinen plötzlichen Mut. Niemand widersprach Kreon. Ich versuchte, mich von der unangenehmen Erinnerung zu lösen und meine Gedanken wieder in die Gegenwart zu bringen. Das fiel mir nicht leicht, immerhin hatte ich einen sehr wichtigen, gut bezahlten Posten verloren, der noch dazu hoch angesehen war. Nachdem ich noch einmal die ganze Szene vor meinem inneren Auge hatte Revue passieren lassen, verfiel ich in ein trauriges Schweigen.
Langsam, auf jeden Schritt achtend, ging ich die enge Gasse Richtung Meer gen Süden hinab. In der Ferne sah ich seine tiefblaue Farbe schimmern, die sich allmählich mit dem noch tieferen Blau des Himmels vermischte. Es dunkelte, ich musste schauen rechtzeitig nach Hause zu kommen. In meinem Kopf kreisten die Gedanken, ich war wütend und traurig zugleich. Ich, der ich über keinerlei Macht verfügte, vermochte den Lauf der Welt nicht aufzuhalten. Als einfacher Bürger konnte ich nur darauf hoffen, dass eines fernen Tages eine wirkliche Demokratie entsteht, in der die Menschen in Frieden leben können.

Bearbeitung von Sabine Rosenberg

Die Chiemgau Autoren geben jedes Jahr eine Anthologie heraus. Das Buch „Lesen für den Frieden“ veröffentlichten die Autoren 2022. In diesem Buch ist Sabine Rosenberg zwei Texten und einem Gedicht vertreten. (ISBN: 9783752627817 (2020)
Die Lesung fand 2022 in der evangelischen Kirche in Prien statt.
(Anmerkung) Lesen für den Frieden: ISBN: 9783752627817 Herausgeber: Chiemgau-Autoren e.V.
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